Dr. Ralph Solveen, stellvertretender Chefökonom der Commerzbank AG, erläuterte am 11. Februar auf dem gemeinsamen Neujahrsempfang von AHK debelux und der Deutschen Botschaft in Brüssel warum 2020 für die Weltwirtschaft trotz des schwierigen ersten Monats, Chancen offenhält.
Es wird aus politischer Sicht ein spannendes Jahr, das machte Botschafter Martin Kotthaus bei seiner Begrüßung deutlich: deutsche Ratspräsidentschaft, Brexit-Verhandlungen, Green Deal - Chancen und Herausforderungen, die immer wieder in Erinnerung rufen, wie wichtig gute Beziehungen sind. Wie eng Deutschland und Belgien zusammenarbeiten sprach der Botschafter auch an: „Wir kooperieren nicht nur in der EU eng miteinander, sondern auch auf zahlreichen Auslandsmissionen gemeinsam, so etwa in Mali, Afghanistan und Litauen, wir sitzen auch zusammen im UN-Sicherheitsrat 2019 und 2020.“
Protektionismus gewinnt an Bedeutung
Wie eng verknüpfte Märkte gemeinsam wachsen können, erlebt AHK debelux als älteste deutsche Auslandshandelskammer seit nunmehr 125 Jahren am deutsch-belgischen und deutsch-luxemburgischen Markt. Ihr Präsident, der Luxemburger Georges Lentz begrüßte die rund 120 Gäste in der Deutschen Botschaft. Freier Warenverkehr und enge Kooperation sei aber heute keine Selbstverständlichkeit mehr, führt Hauptgeschäftsführer Hans-Wolfgang Busch die Zuhörer ins Thema des Keynote-Sprechers ein: „Eine Tendenz ist ganz deutlich geworden in den letzten Jahren: Multilateralismus im Allgemeinen und Freihandel im Besonderen stehen von verschiedenen Seiten unter Druck, und Protektionismus gewinnt in einigen Ländern der Welt zunehmend an Bedeutung - selbst in Ländern, in denen wir nicht erwartet hätten, dass dies jemals der Fall sein würde.“ Unsicherheiten in Bezug auf die wirtschaftliche und politische Entwicklung in einigen Regionen und Ländern scheinen mehr als offensichtlich, und so ist eine Frage in vielen Diskussionen über die globale wirtschaftliche Entwicklung und die Entwicklung des Außenhandels aktuell: Wohin entwickelt sich die Weltwirtschaft – Was kommt als nächstes?
Einfluss des Coronavirus bleibt begrenzt
Dr. Ralph Solveen, stellvertretender Chef-Ökonom der Commerzbank AG steigt gleich mit der Frage in seinen Vortrag ein, die alle bewegt: Welchen Einfluss hat der Corona-Virus auf die (chinesische) Wirtschaft? Die Commerzbank rechnet zunächst mit einem Rückgang des BIP-Wachstums in China um 2%. Dies liege vor allem am Produktionsrückgang des produzierenden Gewerbes (-50%) und der sinkenden Nachfrage im Dienstleistungssektors (-10%). Die Folgen von Corona werden sich vor allem im ersten Quartal zeigen. Doch das sollte kein längerfristiger Trend werden, schätzt der Wirtschaftsexperte. „In den letzten Tagen haben wir einige Signale erhalten, dass der Höhepunkt der Krankheit erreicht ist, so ist z. B. die Anzahl der Neuinfektionen um einiges gesunken. Corona hat natürlich einen großen Einfluss, aber auf lange Sicht gesehen, wirken andere Faktoren bedeutender auf die wirtschaftliche Entwicklung ein.“ Für problematisch hält Solveen vor allem die bereits vor dem Ausbruch des Virus schwierige Wirtschaftslage.
Zweifel an chinesischen Wachstumsprognosen
An dem von den chinesischen Regierungsbehörden prognostizierten 6% BIP-Wachstum, habe er seine Zweifel. „Wenn man sich die Exporte der EU nach China anschaut, dann erkennt man eine starke Volatilität und in den letzten zwei bis drei Quartalen sogar einen Rückgang.“ Dies stehe im Gegensatz zum stabilen Wachstumsprognosen der chinesischen Regierung. „Es gibt kein Land, in dem es ein kontinuierliches stabiles Wachstum gibt, das aber eine so schwankende Importnachfrage nach europäischen Gütern aufweist.“ Im Ergebnis prognostiziert der Wirtschaftsexperte einen bedeutsamen Wachstumsrückgang. „Nach dem Corona-Virus wird sich das Wachstum wieder verbessern, aber es wird nicht mehr so hoch wie 2016 oder 2017 liegen.“ Dr. Solveen sieht die Gründe auch in einer veränderten Steuer- und Geldpolitik der chinesischen Regierung, ausgelöst durch die Angst vor einer neuen Schuldenblase.
Handelskrieg wird sich langfristig auswirken
Auch der Handelskrieg mit USA spielt hierbei eine Rolle. Die aktuelle Deeskalation reduziere zwar die Unsicherheiten und die Märkte zeigten erste Anzeichen der Erholung. Dies gelte aber nur für 2020. Die großen Probleme zwischen beiden Staaten seien noch immer existent, insbesondere in der Frage der Verletzung geistigen Eigentums. „Im günstigsten Fall wird es bis zu den Wahlen in den USA einen Waffenstillstand geben. Danach wird das Thema wieder auf den Tisch kommen.“ Auch mit einem demokratischen US-Präsident werde sich an der Protektionismus-Politik der USA nichts ändern. „Vielleicht wird der Stil ein anderer – nicht mehr über Twitter, sondern über offizielle Stellungnahmen - aber im Kern bleibt es das Gleiche. 2021 und 2022 wird die Weltwirtschaft noch darunter leiden“, so Dr. Solveen.
Aufstrebende Märkte: Chancen und Risiken gleich auf
Nur gering positiv schätzt der Ökonom die Entwicklungen in den aufstrebenden Märkten ein (ohne China und MENA). Vor allem die Geldpolitik ist dort 2019 stark in Bewegung geraten: die Länder haben ihren Leitzins erheblich gesenkt, um ihre Standorte wettbewerbsfähig zu halten und dem Druck der Zinsabsenkung aus den USA folgend. „Das Problem ist nun, dass niemand genau weiß, ob die Märkte zu einem bestimmten Zeitpunkt sagen, dass es zu viel des Guten war.“ Diese Niedrigzinspolitik könne eine echte Chance für die Weltwirtschaft sein, so Solveen. Sie könne aber auch in einer Krise der Schwellenmärkte enden, falls sich die Risikoeinschätzungen verändern. Auch die Wechselkurse in diesen Ländern gerieten unter Druck. Die Gefahr, dass weiterhin Kapital aus den Schwellenländern abgezogen wird, sieht Dr. Solveen vor allem dort als gegeben an, wo eine unausgewogene Währungspolitik betrieben wird.
Lang anhaltender Aufschwung lässt wenig Spielraum nach oben
Die Nachfrage der anderen Industrieländer bleibe mehr oder weniger stabil. Das Wachstum halte hier seit nunmehr zehn Jahren an. Der Commerzbank-Ökonom rechnet auch in Zukunft mit anhaltendem Aufschwung - jedoch weniger ausgeprägt. „Kein Aufschwung starb jemals ab aufgrund seines Alters, er wird üblicherweise abgetötet durch einen Zinsanstieg der Zentralbanken aus Angst vor Inflation.“ Weil diese aber aktuell überraschend niedrig liegt, rechne er nicht einer Veränderung der Geldpolitik. Dennoch werde das durchschnittliche Wirtschaftswachstum der Industrieländer moderat ausfallen: zwischen 1% und 1,5%. Mit Ausnahme des US-amerikanischen Markts, der derzeit alle günstigen Voraussetzungen für ein Wachstum um die 2% mitbringt: niedriger Leitzins, geringe Arbeitslosenquote und wenig Abhängigkeit von der Auslandsnachfrage.
Deutschland: vom Wirtschaftsmotor zum Problemkind?
Ganz im Gegenteil zu Deutschland, wo die sinkende Auslandsnachfrage das Wirtschaftswachstum schwächt. Besonders besorgniserregend: die industrielle Produktion entwickelt sich seit 2019 im Gegensatz zum Rest der Euro-Zone stark nach unten. Dies erkläre sich hauptsichtlich durch die schwächelnde Autoindustrie, laut Solveen, die bis zu 17% weniger im Inland produziert als noch 2017. Basierend auf den Angaben der Verbands der Deutschen Automobilindustrie (VDA) erklärt sich die Commerzbank AG dies hauptsächlich mit den stark nachgefragten SUV-Fahrzeugen, die nicht in Deutschland hergestellt werden. Aber auch die Standortentscheidung für andere neue Modelle fällt oft zugunsten ausländischer Produktionsorte aus. Deutschland habe als Industriestandort an Wettbewerbsfähigkeit verloren. „Wir sollten uns vor Augen führen, dass Deutschland in den nächsten Jahren weniger leistungsstark sein wird.“ Dennoch gebe es Anlass zu Hoffnung: seit Januar 2020 scheinen die Firmen wieder mehr Vertrauen in Deutschland zu haben. „Wir werden eine Kehrtwende sehen, aber es wird kein starker Aufschwung sein, sondern eher ein moderater.“