Außergewöhnliche Zeiten verlangen nach außergewöhnlichen Maßnahmen. Das Tempo, mit dem die Niederlande nachhaltige Energiealternativen entwickeln, ist atemberaubend.
Nehmen Sie die niederländischen Fortschritte bei der Windenergie. Die Regierung hat sich zum Ziel gesetzt, bis 2030 75 Prozent des Strombedarfs des Landes und 16 Prozent des gesamten Energieverbrauchs auf See zu erzeugen. Vor der niederländischen Küste nehmen Windparks rasch Gestalt an. Der im letzten Monat an den deutschen Energiekonzern RWE vergebene Auftrag zum Bau eines neuen 760-MW-Windparks Hollandse Kust West - genug, um bis 2026 Strom für 1 Million Haushalte zu erzeugen - ist ein wichtiger Meilenstein.
Ideale Verhältnisse für Windenergie
Angesichts der flachen Küstengewässer, des günstigen Windklimas und der Nähe zu großen Häfen und industriellen Energieverbrauchern, ist es leicht zu verstehen, warum der niederländische Klima- und Energieminister Rob Jetten glaubt, dass die Nordsee das Potenzial hat, "das Kraftwerk Westeuropas" zu werden. Bis 2050 will die Regierung die gesamte Energie des Landes aus nachhaltigen Quellen beziehen, davon etwa 70 GW Windenergie auf See.
Aktuell verfügt das Land über 14 Windparks an Land und auf See mit einer geplanten oder realisierten Leistung von mindestens 100 MW (siehe interaktive Karte). Die größten Standorte in der Nordsee sind alle um ein Vielfaches größer, obwohl das Potenzial in den niederländischen Gewässern noch geprüft wird (siehe Roadmap der Offshore-Projekte).
Enormes Geschäftspotential
Die wirtschaftlichen Chancen, die sich aus Offshore-Windparks ergeben, sind beträchtlich. Ein großer Inlandsmarkt gibt dem niederländischen Windsektor die Möglichkeit, sein Know-how weiter auszubauen und damit seine starke internationale Position zu stärken.
Niederländische Windturbinenhersteller wie das 1979 gegründete Unternehmen Lagerwey, das mittlerweile zum deutschen Enercon gehört, haben sich eine beachtliche Präsenz erarbeitet. Es gibt auch eine Reihe ausländischer, vor allem deutscher Windkraftausrüster, die davon profitieren. Die baden-württembergische Dillinger Hütte liefert viele Grobblechsockel für Windturbinen, unter anderem für Borssele III und IV, den größten in Betrieb befindlichen Offshore-Windpark des Landes mit einer Gesamtleistung von 1,4 GW.
In der ersten Hälfte des Jahres 2022 gingen am niederländischen Offshore-Standort Hollandse Kust Zuid ganze 1,5 GW online - der größte Zuwachs in einem europäischen Land in diesem Zeitraum. Die Regierung in Den Haag will die Offshore-Windkraft bis Ende 2023 von derzeit 2,5 GW auf 4,5 GW fast verdoppeln.
PV auf dem Vormarsch
Die Solarenergie steht im nachhaltigen Energiemix der Niederlande an zweiter Stelle und machte im Jahr 2021 gut 10 Prozent des Verbrauchs aus, gegenüber 15 Prozent für die Windenergie. Das Land installiert in rasantem Tempo neue Photovoltaik (PV)-Anlagen. Im vergangenen Jahr kamen 3,6 MW von neuen Anlagen hinzu, so dass sich die nationale Gesamtleistung auf 14,2 GW erhöht hat. Aus den in diesem Jahr vom Branchenverband SolarPower Europe veröffentlichten Zahlen geht hervor, dass die Niederlande mit einer installierten Leistung von 825 Watt Strom pro Einwohner die meisten Solarpaneele pro Kopf in Europa haben. Im vergangenen Sommer, der europaweit Rekorde für Sonnentage brach, deckte die Solarenergie im Juli und August bis 30 Prozent des nationalen Strombedarfs.
Die Niederlande haben eine beeindruckende Erfolgsbilanz in Sachen Solarinnovation vorzuweisen. Solarzellen und -paneele aus Silizium wurden erstmals 1981 in dem Land hergestellt. Die Stadt der Sonne, das weltweit erste große energieneutrale Wohngebiet, wurde 2005 in der Stadt Heerhugowaard gebaut. Und das erste echte Offshore-PV-System der Welt wurde 2019 von dem niederländischen Start-up Oceans of Energy installiert.
Der größte Solarpark der Niederlande ist auch einer der Weltgrößten – Top Dutch Solar Array, eine 1,8 GW Anlage mit über 6 Millionen Solarmodulen auf einer Gesamtfläche von fast 9.000 km2 in den Provinzen Groningen, Friesland und Drenthe. Diese Installationen wurden von über 220 Partnern, darunter Solarfields, Ecorus, Elize, ENIE und vielen lokalen Energiegenossenschaften, entworfen und werden im Eigenbesitz betrieben. Nach eigenen Angaben liefert dieser riesige Solarpark genug Strom, um das Äquivalent von etwa 467.000 Haushalten zu versorgen. Die Solarenergie aus diesem Gebiet spart jährlich mehr als 708 Tonnen CO2-Emissionen aus fossilen Brennstoffen - das entspricht den Emissionen von etwa 650.000 Autos.
Supereffiziente Solarzellen
Die niederländische Organisation für angewandte wissenschaftliche Forschung TNO und das niederländische Forschungsinstitut Solliance haben eine Solarzelle mit einer speziellen Kristallverbindung namens Perowskit entwickelt, die die Energieeffizienz auf mehr als 30 Prozent erhöht, ein Rekordwert in der Industrie.
Im Dezember 2022 wird der Bahnhof Delft Campus seinen ersten Jahrestag der vollständigen Energieautarkie mit den Perowskit-Solarzellen feiern, die jährlich 200 MW erzeugen. Genug Strom, um 70 Haushalte zu versorgen. Das deutsch-niederländische Unternehmen Hanover Solar hat die Dach-Segmente hergestellt. ProRail, das für die Instandhaltung des niederländischen Bahnnetzes verantwortlich ist, hat sich zum Ziel gesetzt, ein kraftvolles Solardach bis 2030 auf 398 Bahnhöfen in den Niederlanden zu installieren - und damit den erzeugten Gegenwert für 28.000 Haushalte einzusparen.
Die Beiträge der Sonnenenergie mögen im Vergleich zu den großen Windparks zum Teil bescheiden klingen, aber ihre Bedeutung im nachhaltigen Energiemix der Niederlande nimmt ständig zu. Das niederländische Energieprofil wird im Jahr 2030 ganz anders aussehen.
Text: Jeremy Gray
Foto: Adobe Stock