Business Know-how

Die Zeit der Schwarzseher

18.10.2022

Es ist ein oft erprobtes Erfolgsmodell für Volkswirte: bei Wirtschaftsprognosen lieber immer etwas zu pessimistisch sein. Schauergeschichten haben nun einfach mehr Dramatik und Spannung als romantische Komödien. Wenn es dann wirklich so schlimm kommt, kann sich niemand beschweren, dass man nicht gewarnt wurde. Ist die wirtschaftliche Entwicklung besser als vorhergesagt, erfreuen sich die Zuhörer einer blühenden Wirtschaft und man erinnert sich kaum noch an die Untergangsvorhersagen.

Von Carsten Brzeski, ING

Mit diesem Wissen sollten die aktuellen Rezessions-Schlagzeilen kaum schlaflose Nächte bereiten. Eigentlich. Denn alles deutet darauf hin, dass wir einfach in einer Periode leben, in der Schwarzmaler Hochkonjunktur feiern. Und auch noch Recht bekommen. Denn vor allem für die deutsche Wirtschaft stehen im Augenblick alle Zeichen auf Sturm. Auf einen perfekten Sturm.

Anhäufung der Krisen

Der perfekte Sturm für die deutsche und die europäische Wirtschaft ist anders als jede Krise der letzten Jahrzehnte. Es ist eine Kumulation verschiedener Krisen, die nicht nur kurzfristige Spuren hinterlassen, sondern auch langfristige strukturelle Veränderungen nötig machen. 

Kurzfristig sind es vor allem die hohen Energie- und Rohstoffpreise, die zu einer immer größeren Belastung für Verbraucher und Unternehmen werden. Man braucht schon viel Fantasie, um zu denken, dass bei Menschen angesichts einer Verdoppelung oder Verdreifachung der Energierechnung das Geld noch locker sitzt. Aber auch die Unternehmen sind immer weniger in der Lage, gestiegene Produktionskosten an Verbraucher weiterzugeben. Was folgt sind Gewinneinbrüche und weniger Investitionen und im schlimmsten Fall Produktionsstopps und Abwanderungen ganzer Produktionen ins (billigere) Ausland. Das Niedrigwasser in deutschen Flüssen macht den Rest. Neue Lieferengpässe, Produktionsprobleme und Inflationsdruck sind die Folge.

Billiger Energieimport, hochqualitativer Export

Das ist aber nicht alles. Die Zeitenwende für die deutsche Wirtschaft sollte so langsam bekannt sein. Das altbewährte gesamtwirtschaftliche Geschäftsmodell, mit dem Import billiger (russischer) Energie und Halbprodukte sowie dem Export hochqualitativer Industriegüter ist Geschichte. Die nötige komplette Umstrukturierung der deutschen Wirtschaft wird Zeit und Geld kosten. Die Erfahrungen der letzten drei Jahrzehnte mit Strukturwandel haben gezeigt, dass die erste Phase des Wandels immer von schwachem Wirtschaftswachstum und Wohlstandsverlust begleitet wird. Es dauert eine Weile, bis man die Früchte von Reformen ernten kann.

Schluss mit Rettungspaketen

Die Kombination von Rezession und Strukturwandel kann man nicht einfach mit noch mehr Rettungspaketen angehen. Der große Unterschied zwischen der aktuellen Anhäufung von Krisen und z.B. der Pandemie oder auch der Finanzkrise ist, dass man nicht schnell wieder zur wirtschaftlichen Realität von vor der Krise zurückkehren wird. Große Rettungsschirme jetzt vermindern zwar kurzfristig den wirtschaftlichen Schaden, verhindern allerdings oft auch strukturellen Wandel; ganz abgesehen davon, dass die Schuldenlast für die nächsten Generationen weiter steigt.

Ein Strukturwandel in dieser Zeit ist nicht wie eine OP am offenen Herzen, sondern wie eine OP am offenen Herzen in einem Krankenwagen, der mit 180 km/h rückwärts auf der Autobahn fährt. Es kann ziemlich viel schief gehen. Wie gesagt, es ist Hochkonjunktur für Schwarzseher.

Neue Möglichkeiten die Krise zu meistern

Ganz ohne Hoffnungsschimmer geht es natürlich nicht. Deutschland hat in der Vergangenheit gezeigt, Strukturwandel meistern zu können. Nicht immer schnell und nicht immer elegant, aber letztendlich geschafft. Auch in der jetzigen Situation bieten sich neue Möglichkeiten. Neue Möglichkeiten, die grüne Transformation zu beschleunigen, die unabdingbaren Investitionen in Infrastruktur und Digitalisierung endlich durchzuführen und das Land in die Phase der Post-Industrialisierung zu bringen. Einfach wird es nicht und definitive nicht schmerzfrei, aber letztendlich hoffentlich doch so gut, dass Schwarzseher aktuell zwar Hochkonjunktur feiern, dieser Erfolg aber nicht strukturell wird.

 

Über Carsten Brzeski

Carsten Brzeski ist Global Head of Macro von ING Research. Zuvor arbeitete er bei ABN Amro, dem niederländischen Finanzministerium und der Europäischen Kommission. Er ist JFK Memorial Policy Fellow an der Harvard University und Mitglied des Beirats für internationale Angelegenheiten für die niederländische Regierung und das Parlament. Brzeski hat an der Freien Universität Berlin, der Northeastern University in Boston und der Harvard University in Cambridge, USA, studiert.

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