Das niederländische Arbeitsrecht kennzeichnet sich durch einen sehr weitreichenden Schutz der Arbeitnehmer. Der niederländische Gesetzgeber hatte in der Vergangenheit mehrheitlich die Belange der Arbeitnehmer im Blick, dies ändert sich nur langsam und nicht in demselben Tempo, in dem sich sowohl Technik als auch Gesellschaft verändern.
Da es in den Niederlanden keine Arbeitsgerichte gibt, entschied das höchste Zivilgericht Ende März 2024 mit wegweisender Entscheidung letztinstanzlich über die Klage der Gewerkschaft FNV gegen den Essenslieferanten Deliveroo.
Arbeitsvertrag oder Auftragsverhältnis
Zunächst eine kurze Darstellung der Ausgangssituation: Im Sommer 2015 nahm Deliveroo in den Niederlanden den Betrieb auf. Bis ins Jahr 2018 hinein schloss Deliveroo mit den Lieferpersonen einen Arbeitsvertrag ab. Im Jahr 2018 änderte sich dies und die Verträge wurden fortan als Auftragsvereinbarungen bezeichnet. Mitte 2018 hat die Gewerkschaft FNV hiergegen Klage erhoben. Nach Meinung der Gewerkschaft lagen keine Auftragsverhältnisse, sondern Arbeitsverträge vor. Hiergegen wehrte sich Deliveroo juristisch. Allerdings vergeblich: Deliveroo unterlag auch in letzter Instanz.
Das höchste Zivilgericht urteilte: Die essenausliefernden Personen sind Arbeitnehmer und keine Selbstständigen. Die Gestaltung, den Vertrag als Auftragsverhältnis zu bezeichnen, greift demnach nicht. Die Gesamtumstände und vor allem der verwendete Algorithmus für die Zuweisung und Verteilung von Liefermöglichkeiten an die essensausliefernden Personen sorgten für eine weitreichende Kontrollmöglichkeit durch Deliveroo. Daraus folgerte das Gericht, dass die ausliefernden Personen in den Betrieb eingegliedert sind und die geschlossenen Verträge als Arbeitsverträge zu betrachten sind.
Die Entscheidung hat für Deliveroo zur Folge, dass nun erhebliche Zahlungen zu leisten sind, da zahlreiche Arbeitsverträge weiterbestehen, weil diese nicht rechtswirksam beendet wurden.
Chancen und Freiheiten der Person
Worauf muss also geachtet werden, wenn Unternehmen keine Arbeitsverträge abschließen wollen?
- Viel deutlicher ist seit dem Gerichtsurteil, dass es von erheblicher Bedeutung ist, ob sich die jeweilige Person wie ein Unternehmer verhalten kann. Dabei sind die Möglichkeit, einen eigenen guten Ruf zu erlangen, die steuerliche Beurteilung, die Anzahl der Auftraggeber sowie die Dauer, die die Person für einen einzelnen Auftraggeber tätig ist, von entscheidender Bedeutung. Je mehr Raum eine Person hat, sich selbst wie ein Unternehmer am Markt zu verhalten, umso größer ist die Chance, dass diese Person als Selbstständiger zu qualifizieren ist – und umso geringer die Chance, dass diese Person als Arbeitnehmer zu betrachten ist.
- In der Entscheidung wurde außerdem hierauf hingewiesen: Je mehr Freiheit eine Person hat, die Tätigkeit auszuführen, desto wahrscheinlicher ist es, dass es sich um einen Selbstständigen handelt. Die Freiheit, Tätigkeiten abzulehnen, kann daher ein entscheidender Hinweis sein.
- Weniger entscheidend ist laut Urteil, ob sich die Person durch Dritte vertreten lassen kann. In der Praxis kam dies im beurteilten Streitfall in Einzelfällen vor.
Als Folge für die Praxis gilt damit: Alle Gesamtumstände des Einzelfalls sind abzuwägen. Die Eingliederung in den Betrieb des Arbeitgebers ist nur ein Gesichtspunkt für diese Beurteilung und nicht der Ausgangspunkt dafür, ob ein Über- und Unterordnungsverhältnis vorliegt.
Risiken vermeiden
Mit dieser Entscheidung hat das höchste niederländische Zivilgericht mehr darauf geachtet, ob sich die tätig werdende Person wie ein Unternehmer verhalten kann, und zum Beispiel mit Wettbewerbern ebenfalls Verträge abschließen kann. Sehr deutlich wurde in der Entscheidung, dass die Intention, den Schutz eines Arbeitsverhältnisses zu umgehen, wenig Nutzen hat in Bezug auf das Ergebnis der Gesamtbeurteilung.
Wer mit Selbstständigen arbeiten will, sollte dies gründlich vorab prüfen lassen, um das Risiko von erheblichen Zahlungen zu verhindern.
Letztendlich hat das höchste Zivilgericht hier auch den niederländischen Gesetzgeber sowie den europäischen Gesetzgeber in die Pflicht genommen, Regelungen zu schaffen.
DNHK, Maud Scharley
Quellen:
ECLI:NL:HR:2023:443, Hoge Raad, 21/02090 (rechtspraak.nl)
ECLI:NL:PHR:2022:578, Parket bij de Hoge Raad, 21/02090 (rechtspraak.nl)
ECLI:NL:GHAMS:2021:392, Gerechtshof Amsterdam, 200.261.051/01 (rechtspraak.nl)